J'ai peur ...
In 56 Tagen ist es soweit. Die Franzosen werden zu den Urnen gebeten und entscheiden gleichzeitig über die Zukunft Frankreichs. Das macht mir Angst.
Wer bin ich schon, dass ich über die französische Politik urteilen und das Wahlverhalten der Franzosen nachvollziehen kann ? Eine kleine Deutsche, die im September selbst zum ersten Mal wählen darf und schon genug damit zu tun hat, irgendwie der deutschen Politik zu folgen. Fakt ist, dass im Norden Frankreichs - vor allem hier in den ländlichen Landstrichen - fast ausschließlich Marine LePen und der Front National (FN) unterstützt werden. Warum ? Viele schieben es auf die Landwirtschaftskrise (vor allem die Milchbauern leiden unter den viel zu niedrigen Preisen für Milch). Der FN verspricht bessere Lebensumstände, bessere finanzielle Unterstützung für die Landwirte (das Geld fließt ja dann schließlich nicht mehr in die Flüchtlingshilfe), Steuersenkungen blablabla .... Und ist im Gegensatz in jeder Hinsicht gegen die Unterstützung von Flüchtlingen/Migranten/Ausländern, Homosexuellen, und allen anderen Menschen, die aus irgendeinem Grund nicht in sein Weltbild passen. Das kennen wir doch leider schon von irgendwoher.
Laut aktuellen Umfragen (Stand: 26.02.17) wird wohl LePen die erste Tour der Wahlen Ende April mit 29% für sich entscheiden. Kurz dahinter folgen Emmanuel Macron (25%, gemäßigter Kandidat) und Francais Fillon (19%, konservativ, aber nicht ganz so rechts wie der FN). Letzterer wird allerdings beschuldigt, Vetternwirtschaft betrieben zu haben, sodass er sich der Unterstützung seiner Partei definitiv nicht sicher sein kann. In der zweiten Tour wird dann angeblich Macron mit 61% zu 39% gegen LePen gewinnen. Und auch wenn die Hochrechnungen hoffen lassen, das LePen wenigstens keine Präsidentin, ist es doch schon schrecklich genug, dass im Jahr 2017 - über 70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg - eine rechtsradikale Partei fast 40% der Stimmen erhalten könnte.
Auch viele meiner Schüler werden im April zum ersten Mal wählen gehen. Oder auch nicht, denn in Frankreich musste man sich als Erstwähler bis Ende Dezember im Rathaus der Stadt, in der man wählen möchte, zur Wahl anmelden, damit man im Wählerverzeichnis steht (es gibt nämlich keine Meldepflicht des Wohnortes). Danach ist man für alle darauffolgenden Wahlen registriert. Insgeheim hoffe ich, dass die Schüler das vergessen haben. Nicht wählen gehen. Und damit dem FN nicht ihre Stimme geben können. Denn das ist leider sicher. Sie sind alle wenigstens konservativ, wenn nicht sogar rechtsradikal. Obwohl sie sich natürlich nie so nennen würden.
Im November habe ich mit einer Gruppe von Schülern über die Rechte von Homosexuellen diskutiert. Sie erklärten mir, dass sie die Hochzeit und das Recht der Adaption von Kindern von Homosexuellen in keiner Weise unterstützen. Sie würden sowieso "normale" Menschen bevorzugen. Schwarze und Homosexuelle, das wären ihnen nichts. Was sagt man da ? Selbst auf Deutsch hätte keine Antwort darauf gewusst. Aus Verzweiflung habe ich angefangen zu weinen. Daraufhin haben mir die Schüler versichert, dass sie mich ja auf jeden Fall akzeptieren und mich auch mögen. Ich sei zwar keine Französin, aber immerhin ja weiß.
Vor zwei Wochen kam nun ein neuer Film raus: "Chez nous", ein Film über die Propagandamethoden des FN. Gestern war ich dann mit meiner Tutorin (sie wählt Grün) und einer Freundin von ihr im Kino. Der Film ist unglaublich gut, aber das Kino war fast leer. Vielleicht 15 Leute, wenn man optimistisch ist. Ein paar Minuten nach dem Ende des Films sollte schon der nächste Film beginnen - eine französische Komödie. Die Besucher haben bereits im Foyer gewartet und es war proppenvoll. Mindestens 100 Leute. Zeigt vielleicht auch die Politikverdrossenheit der Menschen.
Ich würde mich gern mit jemandem über den Film austauschen, aber außer meiner Tutorin und meinem Mitbewohner fallen mir da nicht viele Leute ein. Die "normalen" Berufsschüler kann ich vergessen. Heute habe ich es dann mal mit einer Schülerin der Erwachsenenbildung versucht. Wir verstehen uns echt gut, verbringen mehrmals in der Woche den Abend miteinander und waren zum Beispiel vor drei Wochen zusammen mit einer anderen Freundin das Wochenende über in Rouen. Sie hat sich unglaublich über den Film aufgeregt. Er wäre ein Mittel der Propaganda der Linken zeige nicht den wahren Front National. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Wie reagiert man darauf und vor allem inwiefern verändert das mein Verhältnis zu ihr ?
Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Denn auch wenn wir komplett gegensätzliche politische Einstellungen haben, gibt es doch Gemeinsamkeiten. Wir reden über Jungs, kochen gemeinsam, mögen die gleiche Musik. Aber das sind eben nur die seichten Themen. und eine politische Meinung sagt ja eigentlich doch schon viel über einen Menschen aus, oder ?
Hier der Trailer zu "Chez Nous". Leider ist er nur auf Französisch, aber vielleicht funktionieren ja die englischen oder deutschen Untertitel ;)