Miris.
Seit mehreren Minuten sitze ich nun vor dem Computer, versuche meine Gedanken zu bündeln, und irgendwie auf (virtuelles) Papier zu bringen. Im Hintergrund dudelt irgendeine Spotify-Playlist leise vor sich hin.
An einem Donnerstagabend vor vier Wochen rief mich meine Mama weinend an: "Oma ist eingeschlafen." Die Worte, die sich seitdem immer wieder in meinen Kopf schleichen. Sie ist eingeschlafen. Nein, verdammt nochmal. Schlafen ist etwas ganz Normales, Natürliches und vor allem endlich. Sie aber, sie ist tot !
Lange habe ich überlegt, ob ich darüber in diesem Blog schreiben sollte - der immerhin von halb Lettland gelesen wird (das hofft zumindest die kleine Narzisstin in mir, wahrscheinlich sind meine einzigen Leser meine Deutschschüler, denen ich diesen Blog natürlich ganz subtil und unvoreingenommen empfohlen habe). Schließlich ist das Thema sehr persönlich und auch wenn langsam der Alltag wieder ein kleines Bisschen leichter wird, weiß ich nicht, wann die Normalität einkehren wird.
Für mich ist das - im Alter von 20 Jahren - der erste Todesfall in der engeren Familie oder im Freundeskreis. Damit kann ich mich durchaus glücklich schätzen, denn ich kenne Menschen, die haben in diesem Alter bereits beide Eltern oder enge Freunde verloren. Meine Oma jedoch hatte ein langes und erfülltes Leben; zuletzt war sie krank und ihr Tod nicht unerwartet. Dessen war ich mir bewusst, als ich nach Frankreich zog, und wiederkehrte. Und dann nach Lettland zog und dann an Weihnachten Kekse mit ihr aß, nur um kurz darauf wieder in die Ferne zu ziehen. Seit mehreren Jahren ging es ihr gesundheitlich nicht gut und als es mich schließlich nach Frankreich zog, habe ich mich doch beim Abschied gefragt, was wohl in einem Jahr ist und ihr noch zwei, drei oder vielleicht 372 Küsschen mehr auf die Wange gedrückt. Und auch wenn sie mehrmals im Krankenhaus war, konnte sie Nichts kleinkriegen. Beruhigt zog ich nach Lettland.
Nun bin ich wieder in Deutschland, früher als erwartet. Aus einem anderen Grund als erwartet. In die Trauer mischt sich noch etwas Anderes: Eine unglaubliche Wut auf mich selbst. Weil ich das Gefühl habe, mich nicht ordentlich verabschiedet habe, als ich sie im Januar kurz gesehen hatte. Vorwürfe, weil ich nicht da war. Sie starb im Kreise ihrer Kinder und Enkelkinder - während ich irgendwo im lettischen Nirgendwo war. Verzweiflung, weil ich nicht für meine Eltern da sein konnte - und sie nicht für mich. Jeder musste für sich allein trauern - wenn er sich denn dafür die Zeit nahm. Während der Tage nach dem besagten Anruf habe ich mich in die Arbeit gestürzt, bin zweimal hintereinander nach Stockholm gefahren und habe versucht, mich mithilfe der Leichtathletik- und Fechttrainings abzulenken. Sobald ich allein war, konnte ich dieses Leere nicht mehr ertragen und habe Nähe gesucht. Aber auch die war nach nur wenigen Minuten unerträglich, tat fast schon körperlich weh. Während der Ostertage in Stockholm kapitulierte ich dann, mein Körper konnte nicht mehr, ich wollte nur meine Ruhe und gleichzeitig ertrug ich die Stille nicht. Immerzu musste Musik im Hintergrund laufen, selbst während des Duschens.
Wenige Tage bevor sie starb, hatte mich meine Mama in Lettland besucht. Wir (vielleicht auch nur ich) wussten nicht, wie schlecht es ihr wirklich ging. Wir schickten ihr eine Postkarte, allerdings schneite es draußen und ich entschloss mich, die Karte erst am nächsten Tag zur Post zu bringen.
Die Karte kam einen Tag zu spät an.
Vielleicht habe ich aus diesem Grund dieses erschreckende Bedürfnis, mich mitzuteilen. Und vielleicht habe ich ja Glück. Ihr war das Internet nie ganz geheuer und ich bezweifle, dass sie wusste, was ein Blog ist. Aber vielleicht werden da, wo sie jetzt ist, sogar Internetkurse angeboten. Und vielleicht findet diese (digitale) Postkarte trotzdem noch ihren Weg.
Liebe Oma,
Liebe Grüße aus dem kalten Lettland !
Mama war wirklich mutig. Sie hat das Flugzeug genommen, um mich hier zu besuchen und war heute sogar auf der gefrorenen Ostsee spazieren.
Küsschen,
Sarah