Pride and Prejudice
Mani sauc Sāra un es esmu no Vācijas. Sarah, die Deutsche. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ähnlich wie in Frankreich werde ich mir auch hier in Lettland einmal mehr meiner Nationalität bewusst. In den letzten zwei Jahren habe ich bereits gefühlt 20392 Mal erklären müssen, dass ich aus Deutschland komme, warauf in der Regel immer ein Small-Talk über die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich/China/Spanien/Australien/Vatikan/dem Universum folgt. So weit, so gut. Das bin ich gewohnt, die Antworten sind in meinem Kopf. Perfekt durchorganisierter Small-Talk.
Doch Lettland ist anders. Die Letten* sind anders. Sie würden lieber auf Fleisch verzichten, als SmallTalk halten zu müssen, wodurch sie bei mir gleich zu Beginn meines Freiwilligendienstes auf der Sympathieskala nach oben geklettert sind. Und dennoch war nicht ich so ganz auf die doch sehr direkte lettische Art vorbereitet. In den letzten Jahrzehnten wurde Lettland immer wieder von Russen und/oder Deutschen besetzt, sodass jetzt doch eine mehr oder weniger große Skepsis allem Neuen gegenüber herrscht. Und so kommen immer wieder Letten zu mir ins Tourismus-Office, um sich mit mir über Merkel und ihre Flüchtlingspolitik oder die Russen in Deutschland zu unterhalten. Natürlich sind mir diese Gesprächsthemen viel lieber, als zum 1328113. Mal über Bratwurst und Sauerkraut reden zu müssen, und doch habe ich mich am Anfang ziemlich überrumpelt gefühlt. 'Wie heißt du?' 'Dein Akzent ist lustig, wo kommst du her?' 'Ach, aus Deutschland ? Was hältst du von der Bundeswehr, Angela Merkel und den Flüchtlingen?'
Denn auch wenn die Letten mit Jane Austen nicht viel am Hut haben, passen Pride and Prejudice und Latvija einfach wie die Faust aufs Auge. Auf der einen Seite sind die Menschen hier unglaublich stolz auf ihre Traditionen, ihre Sprache, ihr Land. Am 11. und 18. November muss (wie mir meine Kollegin gerade erklärt hat) an jedem Haus eine lettische Flagge hängen, und fast jeder Lette trägt eine rot-weiße Brosche inklusive einer kleinen Flagge auf der Brust. Auf der anderen Seite musste ich mir in vielen meiner Diskussionen Vorurteile anhören, die ich so vorher noch nie gehört habe. 'Die Flüchtlinge aus Afrika kommen nur wegen des Geldes und ihr Deutschen werft es ihnen auch noch in den Rachen.' 'Sie kommen her, leben von unseremG Geld und vergewaltigen die lettischen Frauen' und so weiter und so fort. Die Liste will nicht enden ...
Natürlich steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen, wie die Letten ihr Land zu sehen haben und wie offen sie anderen Menschen gegenüber sein sollten. Für mich ist es einfach eine ungewohnte Situation, ein Land kennenzulernen, in dem die Menschen aufrichtig stolz auf ihr Land sein können und das offen und friedlich zelebrieren. Am 18. November, dem 99. Jahrestag der Unabhängig Lettlands, haben sich 18.000 Mensche versammelt, um mit Fackeln durch Riga zu ziehen und der Kämpfe, die letztendlich zur Unabhängigkeit führten, zu gedenken. Ein Lichtermeer ohne Proteste, ohne Zwischenfälle.
Für mich ist dieser Patriotismus auch nach drei Monaten noch sehr ungewohnt und vor allem die omnipräsente Meinung bezüglich der Flüchtlinge kann und werde ich in keiner Weise unterstützen - auch wenn ich mittlerweile durchaus nachvollziehen kann, dass die Letten nach zwei Weltkriegen, mehreren Okkupationen und großen Abwanderungen der Bevölkerung verzweifelt versuchen, an den Traditionen, die ihnen geblieben sind, festzuhalten. Und trotzdem würde ich mir vielleicht ein bisschen weniger Pride and Prejudice und dafür ein bisschen (oder auch viel) mehr Weltoffenheit wünschen.
Aber wir werden sehen, noch bleiben mir 9 Monate in Lettland und vielleicht gelingt es mir am Ende ja, wenigstens einen Letten davon zu überzeugen, dass es durchaus ausreicht, wenn ich sage: 'Es esmu Sāra.'
*bevor sich jemand angegriffen fühlt .... Ich weiß natürlich, dass ich nicht alle Menschen über einen Kamm scheren kann, und nutze offensichtlich Übertreibungen, um meinen Text zu illustrieren ;-)